15. Juni 2020 Dialogprinzipien wurden überarbeitet und heißen jetzt Interaktionsprinzipien

Usability-Norm ISO 9241-110 in neuer Auflage erschienen

Die Norm ISO 9241-110 ist im Mai 2020 in ihrer zweiten Auflage mit dem Titel „Interaction Principles“ erschienen. Sie enthält 7 sogenannte Interaktionsprinzipien, die bei der Gestaltung jeder Benutzungsschnittstelle (User Interface) anwendbar sind, unabhängig davon ob es um Software, Hardware oder eine Kombination aus beidem geht. Zu jedem Interaktionsprinzip werden allgemeine Gestaltungsempfehlungen gegeben (insgesamt 64 Empfehlungen), deren Anwendung hilft, die Interaktionsprinzipien bei der Gestaltung von User Interfaces konsequent zu befolgen.

Früher „Dialogprinzipien“, jetzt „Interaktionsprinzipien“

In der deutschen Übersetzung hießen die Interaktionsprinzipien bisher „Grundsätze der Dialoggestaltung“. Praktiker sprachen aber in der Anwendung von jeher immer von den „Dialogprinzipien“. Der Begriff „Dialog“ wiederum ist in der englischen Sprache nicht so verbreitet wie der Begriff der „Interaktion“ und so wurden die Prinzipien jetzt „umgetauft“ in Interaktionsprinzipien.

Was ist gleich geblieben?

Der Kern der Norm hat sich nicht geändert. Interaktionsprinzipien sind Gestaltungsrichtlinien für Benutzungsschnittstellen, die Grundsätze verkörpern. Der Anspruch eines Prinzips ist, dass es als Grundsatz immer anwendbar ist. In der Praxis lassen sich vier Ebenen von Gestaltungsrichtlinien unterscheiden. Tabelle 1 zeigt, dass sich Gestaltungsrichtlinien bezgl. ihres Abstraktionsgrads unterscheiden lassen. Interaktionsprinzipien sind hierbei die abstraktesten Gestaltungsrichtlinien.

Ebenen, auf denen Gestaltungsrichtlinien existieren Beschreibung Beispiel
Interaktionsprinzip Eine Grundsatz für das Interaktionsdesign, der immer zutrifft.

Selbstbeschreibungsfähigkeit

Das System zeigt in jeder Benutzungssituation jede erforderliche Information für den Benutzer in geeigneter Weise an.

Heuristik Eine grobe Daumenregel, die häufig (aber nicht immer) zutrifft, und dazu dient, die Umsetzung eines Gestal-tungsprinzips zu erreichen (oder zu überprüfen). Interaktive User-Interface-Elemente sind von nicht-interaktiven User-Interface-Elementen eindeutig unterscheid-bar.
Konkrete Gestaltungsregel Eine konkrete Regel, die man trotzdem unterschiedlich umsetzen kann. Eingabefelder für Pflichtangaben müssen von Eingabefeldern mit optionalen Angaben unterscheidbar sein.
Festgelegte Konvention Festgelegte Standardvorgabe ohne Interpretationsspielraum
  • Eingabefelder für Pflichtangaben werden am Ende des Feldbezeichners mit dem Asterisk-Symbol (*) gekennzeichnet.
  • Der Button [OK] ist immer links von [Abbrechen] platziert.

Tabelle 1: Ebenen von Gestaltungsrichtlinien nach Geis & Johner (aus „Usability Engineering als Erfolgsfaktor“, Beuth Verlag 2015)

Was hat sich verändert?

Immer wieder gab es Diskussionen darüber, ob die insgesamt sieben Interaktionsprinzipien in ISO 9241-110 die „richtigen“ Prinzipien sind.

So wurde das bisherige Prinzip der „Individualisierbarkeit“ jetzt dem Prinzip der „Steuerbarkeit“ als Ausprägung untergeordnet. Der „Grundsatz, der immer zutrifft“ ist hier, dass der Benutzer die Kontrolle über das System behält. Dies entspricht dem Interaktionsprinzip der Steuerbarkeit. Individualisierbarkeit wiederum, ist eine Ausprägung, die hilft, Steuerbarkeit zu erreichen. Nicht jedes System muss durch den Benutzer individualisier sein.

Auch wurde das etwas umständlich benannte Prinzip der „Lernförderlichkeit“ in „Erlernbarkeit“ umgetauft.

Das bisherige Prinzip der „Fehlertoleranz“ ist nun die „Robustheit gegen Benutzungsfehler“. Fehlertoleranz wiederum ist nur eine von drei Ausprägungen der Robustheit gegen Benutzungsfehler.

Als neues Interaktionsprinzip wurde Benutzerbindung („User Engagement“) eingeführt, die sicherstellt, dass Funktionen und Informationen auf einladende und motivierende Weise dargestellt werden und so eine kontinuierliche Interaktion mit dem System gefördert wird.

Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Veränderungen.

Neu: Die 7 Interaktionsprinzipien aus der ISO 9241-110:2020 und ihre Ausprägungen Alt: Die 7 Dialogprinzipien aus der ISO 9241-110:2006

1. Aufgabenangemessenheit

  • Identifizierbarkeit der unterstützten Aufgaben
  • Aufwandsoptimierung bei der Aufgabenerledigung
  • Standardauswahlmöglichkeiten (Defaults)
1. Aufgabenangemessenheit

2. Selbstbeschreibungsfähigkeit

  • Vorhandensein und Offensichtlichkeit von Informationen
  • Eindeutige Anzeige des Systemstatus
2. Selbstbeschreibungsfähigkeit

3. Erwartungskonformität

  • Systemverhalten/ -reaktionen wie erwartet
  • Konsistenz (intern und extern)
  • Änderungen im Nutzungskontext werden erkannt
3. Erwartungskonformität

4. Erlernbarkeit

  • Unterstützung beim Entdecken von Bedienfunktionen
  • Unterstützung beim Ausprobieren von Bedienfunktionen
  • Unterstützung beim Erinnern und Wiedererkennen von Bedienfunktionen
4. Lernförderlichkeit

5. Steuerbarkeit

  • Unterbrechbarkeit
  • Flexibilität
  • Individualisierbarkeit
5. Steuerbarkeit

6. Robustheit gegen Benutzungsfehler

  • Vermeidung von Benutzungsfehlern
  • Toleranz gegenüber Benutzungsfehler
  • Behebung von Benutzungsfehlern
6. Fehlertoleranz
Siehe unter 5. Steuerbarkeit 7. Individualisierbarkeit

7. Benutzerbindung („User Engagement“)

  • Motivation
  • Vertrauenswürdigkeit
  • Integration der Benutzer
-/-

Tabelle 2: Neuerungen in ISO 9241-110:2020 gegenüber ISO 9241-110:2006

Neue Gliederung erlaubt schnelles Auffinden von allgemeinem Gestaltungsempfehlungen

In Tabelle 2 wird sichtbar, dass in der ISO 9241-110:2020 eine Gliederung der allgemeinen Gestaltungsempfehlungen nach ihren Ausprägungen vorgenommen wurde, die ein gezielteres Auffinden von bestimmten allgemeinen Gestaltungsempfehlungen unterstützt. Abbildung 1 illustriert das Konzept.


Strukturierung der ISO 9241-110:2020


Abbildung 1: Strukturierung der ISO 9241-110:2020


Abbildung 2 gibt ein Beispiel für das Prinzip der Erwartungskonformität. Erwartungskonformität hat drei Dimensionen:

  • Systemverhalten/ -reaktionen wie erwartet
  • Konsistenz (intern und extern)
  • Änderungen im Nutzungskontext werden erkannt

Zur Dimension „Konsistenz (intern und extern)“ werden in der Norm insgesamt 3 Empfehlungen mit 7 Beispielen gegeben. Eine der Empfehlungen ist in Abbildung 2 genannt.


Veranschaulichung der ISO 9241-110:2020


Abbildung 2: Veranschaulichung der Struktur in ISO 9241-110:2020


Im Folgenden wird die Gliederung der Prinzipien nach ihren Ausprägungen genauer betrachtet.

In der unteren Liste werden die sieben Interaktionsprinzipien mit ihren Ausprägungen aufgelistet. In der Norm selbst werden für jede Ausprägung mehrere allgemeine Gestaltungsempfehlungen (insgesamt 64) mit zahlreichen illustrativen Beispielen für ihre Umsetzung gegeben.

1. Aufgabenangemessenheit, Ausprägungen:

  • Identifizierbarkeit der unterstützten Aufgaben: Das System hilft dem Benutzer festzustellen, inwieweit seine Aufgaben durch das System unterstützt werden.
  • Aufwandsoptimierung bei der Aufgabenerledigung: Das System lässt den Benutzer die Schritte machen, die aus Benutzersicht wirklich erforderlich sind, und erspart dem Benutzer jegliche überflüssigen Schritte.
  • Standardauswahlmöglichkeiten (Defaults): Das System bietet Defaults, wo immer dies sinnvoll möglich ist.

2. Selbstbeschreibungsfähigkeit, Ausprägungen:

  • Vorhandensein und Offensichtlichkeit von Informationen: Angezeigte Informationen sind für den Benutzer unmittelbar auffindbar und verständlich.
  • Eindeutige Anzeige des Systemstatus: Der Benutzer erkennt jederzeit, ob das System arbeitet und was es tut bzw. ob Eingaben oder Auswahlen durch den Benutzer erforderlich sind.

3. Erwartungskonformität, Ausprägungen:

  • Systemverhalten/ -reaktionen wie erwartet: Das System verhält sich immer so, wie die Benutzer es aus der aktuellen Aufgabe heraus erwarten.
  • Konsistenz (intern und extern): Das System ist bezgl. seiner Darstellung und seines Verhaltens einheitlich gestaltet (interne Konsistenz) und nutzt wo immer sinnvoll auch Darstellungsformen und Verhaltensweisen, die dem Benutzer aus anderen Systemen vertraut sind (externe Konsistenz).
  • Änderungen im Nutzungskontext werden erkannt: Das System stellt fest, dass sich im Nutzungskontext (z.B. physische Umgebung) die Bedingungen verändert haben und passt sich hieran an.

4. Erlernbarkeit, Ausprägungen:

  • Unterstützung beim Entdecken von Bedienfunktionen: Das System ist so gestaltet, das der Benutzer aktiv auf unbekannte Bedienfunktionen aufmerksam gemacht wird und so effizienter mit dem System arbeiten kann.
  • Unterstützung beim Ausprobieren von Bedienfunktionen: Das System ist so gestaltet, das der Benutzer bisher unbekannte Bedienfunktionen ausprobieren kann, ohne dass dies negative Konsequenzen hat.
  • Unterstützung beim Erinnern und Wiedererkennen von Bedienfunktionen: Das System ist so gestaltet, das der Benutzer bei Bedienfunktionen, die er vor längerer Zeit genutzt hat bzw. die er nur gelegentlich nutzt, sofort erinnert wie diese zu nutzen sind und keine erneute Einarbeitung notwendig ist.

5. Steuerbarkeit, Ausprägungen:

  • Unterbrechbarkeit: Der Benutzer kann die Aufgabenerledigung unterbrechen, um an anderer Stelle weiterarbeiten bzw. die Aufgabenerledigung später fortsetzen.
  • Flexibilität: Der Benutzer kann unterschiedliche Interaktionsmittel wählen, um zum Ziel zu kommen.
  • Individualisierbarkeit: Der Benutzer kann – wo erforderlich – die Benutzungsschnittstelle so anpassen, dass eine optimale Aufgabenerledigung gemäß individueller Erfordernisse möglich ist.

6. Robustheit gegen Benutzungsfehler, Ausprägungen:

  • Fehlervermeidung: Durch das System vorhersehbare Benutzungsfehler werden durch geeignete Gestaltung unterbunden.
  • Fehlertoleranz: Gemachte Benutzungsfehler werden vom System erkannt und wenn möglich automatisch korrigiert bzw. Eingaben und Auswahlen trotz erkannter Fehler richtig verarbeitet.
  • Fehlermanagement: Bei gemachten Benutzungsfehlern, die systemseitig nicht korrigierbar sind, wird der Benutzer bei der effizienten Fehlerbehebung unterstützt.

7. Benutzerbindung (englisch „User Engagement“) , Ausprägungen:

  • Motivation der Benutzer: Bedienfunktionen sind ansprechend und einladend gestaltet.
  • Vertrauenswürdigkeit für die Benutzer: Das System vermittelt dem Benutzer glaubwürdig, dass durch die Nutzung keine Risiken für den Benutzer entstehen.
  • Integration der Benutzer: Benutzer können direkt an der Benutzungsschnittstelle Verbesserungsvorschläge machen und werden informiert, wie mit dem jeweiligen Verbesserungsvorschlag umgegangen wurde.

Fazit

ISO 9241-110:2020 ist ein wirklich gelungenes Update einer zentralen Norm für alle, die User Interfaces gestalten oder bei der Gestaltung von User Interfaces mitreden. 7 Interaktionsprinzipien sind eine überschaubare Menge an Grundsätzen, die sowohl Experten in der User-Interface-Gestaltung als auch Verantwortliche verstehen (und sich merken können). ISO 9241-110:2020 gehört in jede Grundausbildung für User-Interface-Designer, egal ob an der Hochschule oder in der unternehmensinternen Mitarbeiterfortbildung.

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